Es braucht wieder eine Industriepolitik

Staaten betreiben Industriepolitik, um gezielt gewisse Sektoren zu stärken, um im globalen Wettbewerb mithalten oder gewisse Güter einer breiten Bevölkerung zur Verfügung stellen zu können. Industriepolitische Massnahmen können über Jahrzehnte den materiellen Wohlstand eines Landes beeinflussen und auch dessen wirtschaftliche Entwicklung substantiell prägen (Lane, 2021). Fast alle Staaten haben in den letzten Jahrzehnten bewusst Industriepolitik betrieben und viele tun dies weiterhin.

In der Schweiz ist für einen Grossteil der tonangebenden bürgerlichen Klasse der Begriff «Industriepolitik» ein rotes Tuch, obwohl auch die Schweiz implizit permanent industriepolitische Entscheide fällt: Die Landwirtschaft wird jährlich mit Milliardenbeträgen unterstützt, Kerosin ist weiterhin steuerbefreit und die Fleischindustrie wird durch Werbeförderbeiträge kräftig subventioniert, und die Rettung der beiden Grossbanken in den letzten 15 Jahren könnte man ebenfalls als industriepolitische Massnahme werten. Angesichts der enormen sozialen und ökologischen Herausforderungen, muss auch der Schweizer Staat wieder eine aktive, bewusste und demokratisch legitimierte Industriepolitik verfolgen.

Die EU, USA und China haben in den letzten Jahren einen Richtungswechsel vollzogen und milliardenschwere Investitionspakete zur Förderung von klimapolitisch relevanten Schlüsselindustrien verabschiedet. Dies geschieht bei Weitem nicht nur aus ökologischem Altruismus, sondern zum grössten Teil aus geostrategischen Überlegungen, im Gegensatz zur Schweiz verfolgen diese Staaten aber bewusst eine Industriepolitik und benennen diese auch als solche.

Der Weltklimarat macht in seinem jüngsten Sachstandsbericht klar, dass die ökologische Produktion von Stahl und anderen Produkten, sowie die Reorganisation von Materialflüssen in industriepolitische Überlegungen einfliessen sollten (Intergovernmental Panel On Climate Change (IPCC), 2023). Das Potenzial dafür sei hoch. Eine Herausforderung und Bedrohung im Ausmass der Klimakrise bedarf eines geplanten Vorgehens. 

Der aktuelle klima- und industriepolitische Blindflug von Parlament und Bundesrat bedroht die Lebensgrundlage von uns allen, weil sich deren Politik auf den Glauben stützt, gewisse indirekte Anreize würden die nötige Umstrukturierung auf magische Weise durch Marktmechanismen automatisch herbeiführen. Dabei ignorieren beide Gewalten ihren Einfluss sogar innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft. Entgegen gewisser neoliberalen Erzählungen wird auch diese stark durch den bestehenden institutionellen Rahmen gelenkt. Die offizielle Schweiz unternimmt aktuell weder Bemühungen, klare Vorgaben zum Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, dem Verbrennungsmotor, noch zu irgendeinem anderen klimapolitisch relevanten Sektor zu erlassen.

Gleichzeitig sinkt der Anteil der Beschäftigten im sekundären Sektor, dem Industriesektor, in der Schweiz seit Mitte der 1960er-Jahre frappant: 1964 arbeiteten 48.8% der Erwerbstätigen im sekundären Sektor, 2023 waren es noch 20.2% (Bundesamt für Statistik, 2024). Dieser Anteil sank nicht alleine aufgrund der Automatisierung, vielmehr wanderten zahlreiche Industriezweige beinahe komplett ins Ausland ab. Als Folge davon liegen die produktionsbasierten Treibhausgasemissionen unter dem globalen Durchschnitt, da die konsumbasierten Emissionen, welche im Ausland für in der Schweiz konsumierte Güter anfallen, nicht angerechnet werden. Diese sind aber doppelt so hoch wie die Schweizer Inlandemissionen.

 

Die Schweiz besitzt nun weder eine eigene Industrie zur Herstellung von Windturbinen, noch Solaranlagen. Dies ist nicht aus protektionistischen Überlegungen oder Ressentiments gegenüber Ländern wie China relevant, sondern für die rasche Dekarbonisierung der Energieproduktion und des Energiekonsums. Die Produktionskapazitäten von Wind- und Solaranlagen in anderen Länder werden durch den Bedarf in der Schweiz zusätzlich belastet. Ausserdem führt eine Konzentration dieser Industrien wie aktuell durch China zu gefährlichen Flaschenhälsen, wie sich dies während Covid bei der Halbleiterproduktion gezeigt hat.

Eine aktive Industriepolitik macht darum sowohl aus Sicht der Arbeiter:innen wie aus klimapolitischen Überlegungen Sinn.

Grüner Stahl für Wind- und Sonnenenergie

Ohne Stahl wird es keine Energiewende geben und ohne Energiewende würden Öl, Gas und Kohle für viele weitere Jahrzehnte zur Freisetzung von Energie verfeuert werden. Windturbinen bestehen zu rund 70% aus Stahl (U.S. Geological Survey, 2024) und die Träger für Solarpanels sind ebenfalls aus Stahl (Solar Power World, 2024). Gleichzeitig ist die aktuelle Stahlproduktion alles andere als nachhaltig und äusserst energieintensiv. Verfahren zu dessen klimaneutraler Herstellung existieren, doch eine Produktion auf gleich hohem Niveau wäre aus ökologischer Sicht nicht zu verantworten. 

Vogl et al. (2021) zeigen, dass durch Effizienzmassnahmen und die Reduktion der Nachfrage die Produktion um 50% gesenkt werden kann. Die Reduktion der Nachfrage darf sich nicht allein auf den Ersatz durch andere Materialien beschränken, die Öffentlichkeit muss klar vorgeben, welche Sektoren weiterhin Stahl in welcher Menge einsetzen dürfen. Das aktuelle Engagement von Deutschland und Schweden zur Vergrünung von Stahl geschieht unter anderem für den langfristigen Erhalt der Automobilindustrie für den privatisierten motorisierten Individualverkehr, welcher unabhängig von der Antriebsart aus ökologischer und städtebaulicher Sicht keine Zukunft haben darf.

Mithilfe einer Industriepolitik kann die Allokation von grünem Stahl für die Herstellung von Photovoltaikanlagen, Windanlagen, Zügen, Trams und Wärmepumpen priorisiert werden.

Für eine lokale Stahlproduktion

Ohne lokale Stahlproduktion in der Schweiz wird der notwendige künftige Aufbau von Produktionsanlagen für Wind- und Solaranlagen in der Schweiz, welche den inländischen Bedarf decken können, massiv erschwert: Die Importkosten steigen, die Kontrolle über die Lieferketten sinkt und die Anzahl an ausgebildeten Industriearbeiter:innen schrumpft weiter.

Die beiden Stahlwerke in der Schweiz müssen erhalten bleiben und keine Arbeiter:innen dürfen entlassen werden. Die Situation der Arbeiter:innen und die Energiewende in der Schweiz dürfen nicht länger von der Willkür einiger reicher Unternehmer abhängen. Der Bundesrat hat sich bislang jeglicher Intervention verweigert, er ignoriert dabei seine klimapolitische und soziale Verantwortung. Im Sinne der Öffentlichkeit, welche mit überwältigender Mehrheit für das Klimaschutzgesetz gestimmt hat, muss der Bundesrat nun intervenieren.

Er darf dabei nicht den gleichen Fehler begehen wie in Deutschland, wo grosse staatliche Subventionen unter anderem an den Stahl- und Rüstungskonzern thyssenkrupp gesprochen wurden, die öffentliche Hand aber in Zukunft weder Anteile am Unternehmen besitzt, noch von allfälligen Gewinnen profitieren würde. Während Roth (2024) und die Mitunterzeichner:innen der Motion ebenfalls die Stahlproduktion als wichtigen Faktor für die Energiewende bennenen, besteht dabei die Gefahr, die Fehler der deutschen Bundesregierung zu wiederholen. 

Die Forderungen der UNIA (2024), welche mit einer staatlichen Unterstützung einhergehen müssen, sind wichtig und richtig, doch sie gehen noch zu wenig weit: Falls sich die Stahlproduzenten doch für eine Schliessung oder den Abbau von Stellen entscheiden, sollte die Stahlproduktion unter öffentliche Verwaltung in Zusammenarbeit mit den Arbeiter:innen in den Stahlwerken gestellt werden. Die Werke sollten dabei zu einem symbolischen Betrag von einem Franken übernommen oder gleich vergesellschaftet werden.

Eine solche Übernahme und Vergesellschaftung der Produktion muss einhergehen mit einer starken Reduktion des Energieverbrauchs und der Stahlnachfrage, sowie dem Aufbau einer einheimischen Industrie für Produktionsanlagen von erneuerbarer Energie.